Experimentierfeld lebendes Gehirn
Neurowissenschaftler brauchen bessere Messinstrumente
Bis heute fehlt eine allgemein akzeptierte Theorie der Großhirnrinde. Dieses Ziel ist nach Meinung des profilierten Neurowissenschaftlers Wolf Singer ohne verbesserte Messinstrumente für die Untersuchung am lebenden Organismus nicht zu erreichen. Bisher gibt es noch keine geeignete Maschine, die die Vorgänge im lebenden Gehirn gleichzeitig räumlich und zeitlich in hoher Präzision erfassen könnte. Hier sieht Singer, wie er in unserem Interview sagt, noch erheblichen Entwicklungsbedarf.
Link-Empfehlungen der Redaktion zu weiterführenden Informationen:
– Forschungsbereiche im ESI – hier
– mehr über Neuromorphic Computing an der Uni Heidelberg – hier
– Infos zu den Forschungsschwerpunkten des Human Brain Project – hier
– zu unserem ersten Talk-Teil mit Prof. Wolf Singer zum Thema „Physik und Biologie wachsen zusammen“ – hier
Mehr zum Inhalt des Videos:
Das europäische Human Brain Project, kurz HBP, ist mit einem Budget von mehr als einer Milliarde Euro angetreten, das internationale Wissen um die neuronalen Prozesse im Gehirn auf einer Plattform zu bündeln und der Wissenschafts-Community der Hirnforscher unterschiedlichster Provenienz verfügbar zu machen. Die Frage stellt sich dabei, ob wir schon genügend relevantes Wissen haben, das gebündelt werden könnte oder müsste. Die Meinungen dazu gehen reichlich auseinander.
Wolf Singer gehört als HBP-Chairman des International Advisory Boards eher zu den Mahnern der Szene. Er relativiert allerdings Aussagen, die von manchen der HBP-Beteiligten zum heutigen Stand der Hirnforschung verbreitet werden. Seiner Meinung nach fehlt uns noch wesentliches Basisverständnis der nicht-linearen dynamischen Prozesse im neuronalen Netz. Am besten sind heute die biochemischen Vorgänge auf zellularer Ebene in einzelnen Neuronen entschlüsselt. Wie diese jedoch in der Großhirnrinde im neuronalen Netz zusammenwirken, ist heute weitgehend ungewiss.
Obwohl Singer zu den Pionieren der Theoretisierung der Biologie gehört, sind aus seinen Worten deshalb deutliche Vorbehalte heraus zu hören, wenn es um die Aussagekraft derzeitiger Simulationen der vernetzten Vorgänge im Gehirn geht. Sie könnten heute nur eine Blaupause des visualisierten Nichtverstehens sein. Ähnlich bewertet er die Aktivitäten um das Neuromorphic Computing. Für Singer ist, wie er in unserem Interview erläutert, die eigentliche Triebfeder des extravaganten Forschungszweiges der Computerwissenschaften weniger die Entwicklung geeigneter Werkzeuge für die Modellbildung der Biologen als vielmehr die Suche nach einem Erfolg versprechenden, neuen Ansatz für die an ihre Grenzen stoßende Computertechnologie.
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