Sprache als Systemforschung
Linguistik zwischen erlernter Kognition und angeborenem Formalismus
Linguisten befassen sich heute mit der Sprache aus zwei gegensätzlichen Forschungsansätzen: Die gebrauchsbasierten Sprachwissenschaftler sehen Sprache als direktes Resultat von Eigenschaften der Kognition und Bedürfnissen in der Kommunikation. Demgegenüber betrachten Anhänger der Universalgrammatik Sprache als angeborenes, abstraktes und in sich geschlossenes System. Der theoretische Linguist Walter Bisang, der die Sprachen dieser Welt als Typologe systematisch untersucht und mit Experimenten untermauert, sieht sich als Mittler zwischen diesen beiden ganz unterschiedlichen Denkwelten.
Sprechertext der Sendung:
Sprache – sie unterscheidet die Spezies Mensch von allen anderen Wesen dieses Planeten. Wir haben sie zur Kunstform stilisiert – und in der Mathematik und der Logik abstrakt formalisiert.
Schon im Mutterleib beginnt das noch Ungeborene, Töne – und damit auch Sprache – wahrzunehmen. Die Umwelt nimmt erheblichen Einfluss auf die Sprachentwicklung. Schon Baby-Schrei ist nicht gleich Baby-Schrei, sondern wird geprägt durch Klangstrukturen der Muttersprache. Nicht einmal wo im Gehirn sich die Sprachstrukturen detailliert herausbilden, ist final festgelegt. Neurolinguistische Experimente belegen, dass die synaptische Entwicklung auch durch die individuellen Fähigkeiten der wahrnehmenden Sensorik beeinflusst wird.
Die theoretische Linguistik befasst sich mit der Grammatik als Gesamtsystem. Dazu gehört nicht nur die Analyse heutiger Strukturen, sondern auch deren evolutionäre wie kulturelle Entwicklung. Ihre moderne Prägung erhielt sie vor über einem Jahrhundert – durch den Genfer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure.
Heute kennen wir weltweit rund 7000 Sprachen. Von ihnen ist etwa ein Drittel wissenschaftlich erfasst. In diesem Weltatlas der Sprachstrukturen lassen sich wesentliche Eckwerte unseres grammatikalischen Wissens geographisch verorten.
O-Ton Prof. Dr. Walter Bisang
Walter Bisang befasst sich an der Universität Mainz mit der Sprachtypologie. Seine systematischen Überlegungen überprüft er zusammen mit Kollegen. Die mit ihnen entwickelten Experimente nutzen unterschiedliche Methoden – beispielsweise das Neurolabor. Hier können immer nur kleine Ausschnitte dessen untersucht werden, was Sprache ist. Denn Sprachtheorien in ihrer Gesamtheit sind für eine experimentelle Untersuchung heute zu komplex.
Dennoch gilt: Von den Neurolinguisten erhalten Sprachtheoretiker immer mehr Impulse. Inzwischen stehen im Neurolabor unterschiedliche Verfahren zur Verfügung. Beispielsweise kann das EEG die Verarbeitung menschlicher Sprache sichtbar machen. Sogar die Sprachproduktion lässt sich heute vermessen.
Mit dem Computer hat die Wissenschaft inzwischen ein weiteres mächtiges Werkzeug erhalten. Digitale Algorithmen erlauben es, große Datenmengen von Sprachstrukturen zu untersuchen, dabei typische Muster zu erkennen und statistisch auszuwerten.
O-Ton Prof. Dr. Walter Bisang
Auch wenn also die Linguistik die „Kernwissenschaft“ der Sprachforschung ist, kooperiert sie doch mit vielen Disziplinen. Erst in dieser Gesamtheit wird das Phänomen Sprache sichtbar.
Orientiert sich die Linguistik an der Sprache im konkreten Gebrauch, nennt sie der Experte heute „gebrauchsbasiert“.
O-Ton Prof. Dr. Walter Bisang
Noam Chomsky dagegen betreibt eine rein abstrakte Sprachwissenschaft. Seinen deduktiven Zugang zur Sprachlichkeit des Menschen verfolgt er bereits seit den fünfziger Jahren und untermauert ihn auch mit empirischen Studien. Dennoch steht seine abstrakte Theorie bis heute in Kontrast zur gebrauchsbasierten Linguistik und ihrem induktiven Forschungsansatz.
Chomsky sagt: Die Regeln einer Sprache sind so komplex, dass ein Kind sie nicht allein aus dem sprachlichen Input seiner Umgebung herleiten kann. Es muss also eine angeborene Sprachfähigkeit geben, eine vorgegebene Schablone, in der Sprache dann erlernt wird. Diese Sprachfähigkeit im engen Sinn bezeichnet er als Universalgrammatik. Sie betrifft nur die Syntax der Sprache und ist damit eine idealisierte Abstraktion menschlicher Sprachkompetenz – unabhängig davon, wie sich daraus Sprachen tatsächlich entwickeln. Grundlage der Universalgrammatik ist die Rekursivität.
O-Ton Prof. Dr. Walter Bisang
Die Rekursivität von Chomsky lässt sich etwa mit dem vergleichen, was die Lichtgeschwindigkeit für den Physiker ist: eine nicht weiter begründbare, sondern in der Natur eingebettete Konstante. (Einblendung c=299.792.458 m/s) Niemand weiß, warum die Lichtgeschwindigkeit diese Größe hat, sie ist insofern vorgegeben. Aber die Größe dieser Konstante ist experimentell vielfach bestätigt, wir können damit Naturgesetze bilden und diese auch experimentell überprüfen (Einblendung: E=mc2).
Wie der Wert der Geschwindigkeit des Lichts in der Physik liegt Chomskys Modell der Rekursivität außerhalb jeglicher Überprüfbarkeit durch die Wissenschaft – hier die Biologie und die Evolution.
Aber anders als in der altehrwürdigen Physik fehlt den experimentell arbeitenden Neurolinguisten heute noch ein ebenbürtiges theoretisches Fundament. Chomskys von der Alltagssprache ziemlich abgehobene Theorie lässt sich derzeit nicht falsifizieren. Was bleibt, ist dies:
O-Ton Prof. Dr. Walter Bisang
Die Universalgrammatik im engen Sinn definiert für den Linguisten Chomsky, dass wir nur dank dieser uns angeborenen sprachlichen Fähigkeit überhaupt in der Lage sind rekursiv zu denken. Und genau an diesem Punkt setzt eine zentrale Kritik seiner Gegner an.
Könnte Rekursivität nicht auch – genau umgekehrt – dem Denken und der menschlichen Kognition insgesamt zugrunde liegen und von dort aus erst in die Sprache gelangt sein? Diese Interpretation wird heute von vielen Evolutionsbiologen und Neurolinguisten gestützt.
O-Ton Prof. Dr. Walter Bisang
Noch sind wir weit davon entfernt, das komplexe System menschlicher Kognition zwischen Bewusstsein, Sprache und Denken zu verstehen. Bisang hält deshalb die Auseinandersetzung mit dem theoretischen Ansatz von Chomsky schon wegen ihrer gedanklichen Schärfe für intellektuell fruchtbar – und das ganz unabhängig davon, ob das Konzept der Universalgrammatik wissenschaftlich haltbar ist oder vielleicht auch nicht.
O-Ton Prof. Dr. Walter Bisang
Erstsendung: Februar 2017
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