Bauherr Gehirn

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Like This Video 0 Susanne
Added by 10. Februar 2019

Studiosendung „Forscher & Fakten“: Wolf Singer und die Entstehung von Bewusstsein

 

Im Mittelpunkt steht ein Gespräch mit dem bekannten Neurophysiologen Wolf Singer und dessen Interpretation der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins. Bewusste Vorgänge konstituieren sich im Gehirn als Ergebnis eines sogenannt konstruktivistischen Prozesses, in dem Sinneswahrnehmungen mit abgespeichertem Vorwissen zusammen geschaltet werden. Doch anders als bei Tieren sind im menschlichen Gehirn auch soziokulturelle Erfahrungen als Vorwissen gespeichert, die beim Prozess der Wahrnehmung mit verarbeitet werden. Sie haben die Entwicklung der Sprache zu Grundlage, die auch das Ich-Bewusstsein des Menschen ermöglicht.

 
 
Sprechertext der Sendung:
 
Heute geht es ums Bewusstsein und das eigene Ich. Dabei ist die erste Botschaft diese: Bewusstsein und Selbstbewusstsein sind zwei ganz verschiedene paar Stiefel. Das jedenfalls sagt einer, der es wissen muss.

Prof. Dr. Dr. h.c. mult Wolf Singer, Neurophysiologe, Max-Planck-Institut für Hirnforschung

Wolf Singer gehört zu den prominentesten deutschen Hirnforschern. Folgen wir ihm jetzt in seiner Vorstellung zu diesem komplizierten Thema, ein Feld, von dem manche sagen, dass es für uns niemals wird gänzlich zu entschlüsseln sein. Doch Wissenschaftler wie Singer schrecken dennoch nicht davor zurück, Herleitungen und Interpretationen auf der Grundlage bekannter Fakten der Neurologie und der Evolutionstheorie zu wagen. Die erste Frage, die dabei genauer zu klären ist: Was unterscheidet bewusstes von unbewusstem Denken.

Prof. Dr. Dr. h.c. mult Wolf Singer, Neurophysiologe, Max-Planck-Institut für Hirnforschung

Was aber unterscheidet das Bewusstsein eines Affen von dem eines Menschen? Singer sagt: Bewusstsein haben beide Lebewesen, es ist im biologischen Organismus eine interne Optimierungs-Leistung des neurologischen Systems. Ganz anders ist das für Singer jedoch beim Selbstbewusstsein, das für ihn ohne den anderen, das Gegenüber, und eine hochentwickelte Kommunikation mit ihm gar nicht entstehen kann.

Prof. Dr. Dr. h.c. mult Wolf Singer, Neurophysiologe, Max-Planck-Institut für Hirnforschung

Wir halten fest: Singer ist ein klarer Verfechter der These, dass Ich-Bewusstsein nicht nur direkt an Sprache gekoppelt ist, sondern viel mehr noch, dass Sprache und die dadurch ermöglichte Kommunikation grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung des selbstreflektiven Denkens ist. Es ist uns nicht angeboren, sondern jeder Mensch muss das Ich-Bewusstsein als Fähigkeit erst erlernen und braucht dazu eine Welt selbstbewusster Wesen um ihn herum, sonst gelingt ihm das nicht. Das wird nicht von allen Forschern so gesehen. Aber wenn diese Auffassung stimmen sollte, dann heißt das eben im zulässigen Umkehrschluss auch: Fehlt Mogli die Sprachlichkeit, kann sich die Vorstellungskraft eigener Identität nicht herausbilden.

Prof. Dr. Dr. h.c. mult Wolf Singer, Neurophysiologe, Max-Planck-Institut für Hirnforschung

Aber wie kommt es überhaupt zu bewussten Vorgängen im Gehirn? Eine verbindliche Antwort scheitert schon daran, dass es heute überhaupt noch keine wissenschaftlich allgemein anerkannte Definition des Begriffs Bewusstsein gibt. Und ohne klare Definition des Untersuchungs-Gegenstandes ist eine Verständigung über wissenschaftliche Ergebnisse ziemlich problematisch. Wie schwierig die Situation heute tatsächlich ist, dokumentiert diese recht deprimierende Aussage des Grandseigneurs der deutschen Hirnforschung:

Prof. Dr. Dr. h.c. mult Wolf Singer, Neurophysiologe, Max-Planck-Institut für Hirnforschung

Singer ist als Neurobiologe fest verankert in dem, was man exakte Wissenschaft nennt, ein Ziel allerdings, von dem die einschlägige Forschung beim Bewusstsein noch sehr weit entfernt ist. Und das nicht, weil Forscher es nicht redlich versuchen, sondern einfach deshalb, weil uns dazu heute die dafür erforderlichen Werkzeuge und eben auch die theoretischen Grundlagen noch gänzlich fehlen. So bleibt die Erörterung vorläufig in nicht weiter beweisbaren Überlegungen verstrickt. Meinung steht gegen Meinung. Wenn es also in der Wissenschaft so wenig Einigkeit rund ums Bewusstsein gibt und jegliche überprüfbare Theorie heute noch fehlt, wenn noch nicht einmal der Begriff geklärt ist oder die Frage, wann und vor allem warum sich das Bewusstsein in der Evolution entwickelt hat, wenn all das so ist, wollte ich doch wenigstens wissen, was aus Sicht von Singer die drei großen Aspekte der Bewusstseinsforschung heute sind – die offenen Fragen, die es zu beantworten gilt – hier seine Antwort:

Prof. Dr. Dr. h.c. mult Wolf Singer, Neurophysiologe, Max-Planck-Institut für Hirnforschung

S9- Also noch einmal gesagt: Irgendwie hat man das Gefühl, dass die Wissenschaft heute noch keinen Boden unter den Füssen hat, wenn es ums Bewusstsein geht. Aber immerhin: Einen Lichtblick der Einigkeit gibt es doch zu verzeichnen – und dieser kleinste gemeinsame Nenner heißt: Neuronale Prozesse im Gehirn sind also auch die unabdingbare Voraussetzung für das „Bewusstsein“. Denn sie regeln nicht nur sämtliche Körperfunktionen, sondern auch unsere Wahrnehmung. Diese Informationen werden über Sensoren wie Augen, Ohren oder die Haut aufgenommen. Wahrnehmungen und Körperfunktionen bilden dabei im Organismus ein untrennbares Ganzes. Das Gehirn als zentrale Schaltstelle hat die Aufgabe, die zahlreichen, komplexen Vorgänge im Körper in Abhängigkeit der Inputs über die Sensoren zu steuern. Der Hirnforscher nennt diese physiologischen Vorgänge „materiell“, weil sie im Körper zu unterschiedlichen biochemischen Veränderungen führen, die heute messbar und für uns zu erschließen sind. Das große offene Thema der Hirnforschung ist also, wie diese materiellen Vorgänge im Körper „immateriell“ werden, zu subjektiven Empfindungen und Gefühlen. Singer bringt sie mit der sozio-kulturellen Evolution zur Deckung.

Prof. Dr. Dr. h.c. mult Wolf Singer, Neurophysiologe, Max-Planck-Institut für Hirnforschung

Die Grundlage bildet für Singer die Ansicht einer inzwischen großen Gruppe von Hirnforschern, die unsere Sinneswahrnehmung für ein „Konstrukt“ halten. Man könnte sagen: Die Welt ist für uns so, wie wir sie wahrnehmen, aber die Welt ist nicht so, wie wir sie wahrnehmen. Denn unsere bewusste Wahrnehmung wird im Gehirn durch Vorwissen im Unbewussten “konstruiert”. Wie es beispielsweise in einem digitalen Bild durch Kompressionsverfahren zu visuell erkennbaren Artefakten kommen kann, so ist auch die Mustererkennung aus Vorwissen im Gehirn nicht fehlerfrei. Im Alltag sprechen wir beispielsweise von optischen Täuschungen, denen wir unterliegen, oder von „Einbildung“, die uns einen Streich gespielt hat. Dieses Vorwissen erlaubt es dem Gehirn allerdings, die neuronalen Verarbeitungsprozesse deutlich zu beschleunigen. Solch elementares Vorwissen, das individuell geprägte “Weltbild”, auf dem unsere Wahrnehmung aufbaut, beginnt sich mit der Geburt im neuronalen System zu manifestieren, ist also individuell geprägt. So weit, so gut.

Prof. Dr. Dr. h.c. mult Wolf Singer, Neurophysiologe, Max-Planck-Institut für Hirnforschung

Zum Abschluss noch einmal zurück zur grundlegenden Thematik von Singers Auffassung, dass Bewusstsein und Selbstbewusstsein zwei klar zu trennende Phänomene sind: Bewusstsein kann für ihn von der Neurobiologie und der Hirnforschung entschlüsselt werden. Doch beim Selbstbewusstsein auf der Grundlage eines konstruktiven, sozio-kulturellen Vorwissens hält er seine Wissenschaft grundsätzlich für überfordert, die Aufgabe zu lösen.

Prof. Dr. Dr. h.c. mult Wolf Singer, Neurophysiologe, Max-Planck-Institut für Hirnforschung

So schließt sich der Kreis mit der Forderung methoden-übergreifender wissenschaftlicher Forschung: hier also von Neurobiologie, Verhaltensforschung und Evolutionstheorie bis zu den Sozial- und Geisteswissenschaften.

  
Erstsendung: Februar 2019
© 2019 mce mediacomeurope GmbH
© Vorschaubild: Boehringer Ingelheim

  
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